Radioaktivität

Der grausame Strahlentod

Die Feuerwehrmänner, die unmittelbar nach der Explosion beim Brandherd in Tschernobyl eintrafen, waren einer immensen Strahlung ausgesetzt und wurden kurz danach nach Moskau zur medizinischen Behandlung geflogen, wo ein grausamer Tod auf sie wartete. Im Buch „Atom. Die Geschichte des nuklearen Zeitalters“ von Stephanie Cooke werden die grausamen Folgen der Strahlenkrankheit geschildert:

<Während von Pripjat zwölfhundert Busse abfuhren, musste Ljussja [die Frau eines Feuerwehrmannes] erleben, was es heisst, einen radioaktiv verstrahlten Sterbenden zu lieben. Sie folgte ihm nach Moskau und tat alles, um ihn sehen zu können. Sie missachtete wiederholt Warnungen, ihn zu sehen: „Du bist noch jung. Was denkst du dir dabei? Er ist kein Mensch mehr, sondern ein Reaktor. Ihr verbrennt doch zusammen.“

Wassilis Zustand verschlechterte sich schnell. Einer der Ärzte ermahnte Ljussja: „Sie dürfen nicht vergessen: Vor Ihnen liegt nicht mehr ihr Mann, sondern ein hochgradig radioaktiv verseuchtes Objekt.“

Ihr Mann, der jetzt in einem speziellen Sauerstoffzelt unter einer durchsichtigen Folie lag, hatte 25- bis 30-mal Stuhlgang in 24 Stunden, mit blutigem Schleim. Die Haut begann an Händen und Füssen aufzuplatzen. Überall Blasen, wenn er den Kopf drehte, blieb auf dem Kissen ein Büschel Haare zurück.

Schliesslich die letzten zwei Tage: „Wenn ich seinen Arm hob, schwang der Knochen hin und her, das Fleisch löste sich schon… Teile der Lunge und der Leber kamen ihm aus dem Mund heraus… Er erstickte fast an den eigenen Innereien… Ich wickelte eine Binde um die Hand und schob die Hand in seinen Mund, um das alles herauszuholen… Keine Schuhgrösse passte, er wurde barfuss in den Sarg gelegt.“

Wassilis Leichnam legte man in der Paradeuniform in einen Plastiksack, legte diesen zugebunden in einen Holzsarg, packte den Sarg in einen weiteren Sack aus durchsichtiger Folie, doch fest wie eine Wachstuchdecke und legte all das mühsam in einen Zinksarg, der danach verlötet und auf einem Moskauer Friedhof unter einer Betonplatte begraben wurde.

Den Angehörigen hatten die Behörden zuvor mitgeteilt, dass sie die Leichen nicht herausgeben könnten, sie seien völlig verstrahlt, ausserdem Helden und gehörten nicht mehr den Familien, sondern dem Staat.>

(aus: „Atom. Die Geschichte des nuklearen Zeitalters“ von Stephanie Cooke, Seite 394. Aus dem Amerikanischen von Hans Günther Holl. © 2010, 2011 by Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH&Co. KG, Köln. www.kiwi-verlag.de

Die zornige Wanzenmalerin Cornelia Hesse-Honegger

Von FRANZISKA SCHLÄPFER*

Der 26. April 1986, die Katastrophe von Tschernobyl, veränderte die Existenz der naturwissenschaftlichen Zeichnerin Cornelia Hesse-Honegger. Ungewollt rutschte sie in die Rolle der Atomkraftgegnerin. Fünfundzwanzig Jahre zeichnete sie für die wissenschaftliche Abteilung des Zoologischen Museums der Universität Zürich vor allem durch Gifte mutierte Taufliegen. Für ihre eigene Arbeit entdeckte sie die Blattwanze und schärfte damit den Blick für die Welt der Insekten.

Seit dem Reaktorunfall in der Nähe der ukrainischen Stadt Pripjat untersucht sie Auswirkungen künstlicher Radioaktivität auf die Natur rund um Schweizer Atomkraftwerke und internationale Atomanlagen. Sie will wissen, weshalb ihren geliebten Wanzen die Fühler abfallen. Malend klärt sie auf. Unmöglich, findet ihr Professor, der Genetiker Hans Burla, Naturschutz mit dem Pinsel zu betreiben. Doch je länger Cornelia Hesse-Honegger forscht, desto öfter fragt sie sich, mit wie viel Krankheit, Missbildungen und Mutationen wir uns abfinden wollen.

Sie stellt sich die Fallout-Gebiete der Tschernobyl-Wolke als riesiges Labor für Biologen vor. Doch dem Unfall folgt die Entwarnung: Die Radioaktivität sei unerheblich – kein Grund zur Panik, kein Grund für eine andere Energiepolitik. Die skeptische Forscherin fliegt im Juni 1987 nach Schweden, fährt nach Gysinge Bruk in der Nähe von Österfärnebo. Ein „wunderschöner Ort“, mit dem höchsten radioaktiven Niederschlag Westeuropas. Die Sorgen der Bevölkerung beruhigt man, der Sand in den Sandkästen wird nicht ausgewechselt. Cornelia Hesse-Honegger findet Grausliches. Der Klee treibt weinrote Blätter statt grüne, blüht rosa statt gelb. In Österfärnebo und Gävle haben Wanzen ungleiche Flügel und Fühler in Form von Würsten. „Es war, als hätte jemand die Jalousien hochgezogen. Ich war verwirrt und befürchtete, irgendwie übergeschnappt zu sein“.

Im September fährt sie ins Tessin. Das Fischen im Luganersee ist verboten, auch das Essen von Beeren, Pilzen und Schafkäse. Die sieben Wanzen, die sie neben dem Hotel in Melano findet, sind alle deformiert. Auf einer zweiten Exkursion findet sie wieder geschädigte Wanzen, Blätter mit gestörten Symmetrien. Sie fängt en Pärchen „Drosophila melanogaster“ und züchtet die Fliegen in Zürich bis in die vierte Generation. Manche Nachkommen sind deformiert, vor allem im Gesicht, an Augen, Abdomen und Flügeln. Sie kontaktiert Professoren der Universität Zürich; diese winken ab, eine Studie rechtfertige sich nicht, die Strahlendosis sei niedriger als auf einem Schweizer Berg. Ausserdem wäre ein Referenzbiotop heranzuziehen; mit den wenigen Individuen sei nichts bewiesen; Tausende von Blattwanzen müssten untersucht werden. Cornelia Hesse-Honegger narkotisierte und untersuchte jeweils die Wanze und liess gesunde Tiere wieder laufen. Später behielt sie alle Beweise, korrekt angeschrieben in Insektenkästen.

Die Konfrontation mit den Biologen macht ihr klar: Die „niederen Strahlendosen“ sind der heikle Punkt. Ist aber der Fallout der Tschernobyl-Wolke so harmlos wie behauptet, müssten in der Umgebung der Schweizer Atomkraftwerke die Wanzen gesund sein, weil die radioaktiven Emissionen aus den Kaminen dort noch niedriger sind. Statt des Käferfestes findet sie ein Krankenlager. Schlimme Missbildungen rund um Gösgen, Leibstadt, auch um  das Paul Scherrer Institut, das grösste Energieforschungsinstitut der Schweiz.

Unter dem Titel „Der Verdacht“ publiziert sie 1989 Bilder ihrer Trouvaillen im Tages-Anzeiger-Magazin: „Meine Bilder der abnormen Wanzen unterbreitete ich mehreren Zoologen, mit denen ich seit Jahren zusammengearbeitet hatte. Die Genetiker sagten, unabhängig voneinander, eine Veränderung der Erbfaktoren als Folge von Tschernobyl sei auszuschliessen. In der Natur gebe es viele spontane Mutationen. Mir selber fehlen die Möglichkeiten, mit wissenschaftlichen Methoden Erbschäden nachzuweisen und sie auf radioaktive Bestrahlung zurückzuführen. Aber ich fände es notwendig, dass Spezialisten sich entschliessen könnten, abzuklären, ob die Missbildungen an den im Tessin und in Schweden gefundenen Insekten als natürliche Mutationen zu betrachten sind, oder ob sie <künstlich> hervorgerufen wurden.“

Der Artikel schlägt ein wie eine Bombe. Schreckt Politiker auf, verärgert Biologen. Einmal mehr reagieren sie aggressiv, die Strahlung sei absolut ungefährlich. Auf Anregung von Nationalrat Hansjörg Weder gibt der Bundesrat eine Studie in Auftrag; der Zoologe Johannes Jenny sammelt 10'000 Feuerwanzen im Rahmen seiner Doktorarbeit; ein Drittel der Insekten sind geschädigt. Cornelia Hesse-Honegger malt sie, „entsetzlich missgebildete Wanzen“. Und treibt ihre Studien rund um die Atomaufbereitungsanlage Sellafield in England weiter. Reist 1990 mit einer Gruppe nach Tschernobyl, sammelt mit Chirurgenmaske und Gummihandschuhen ausgerüstet Wanzen in der 30-Kilometer-Zone. Notiert ins Tagebuch: „Ich möchte Schritt für Schritt das Alphabet der Strahlenkrankheiten bei Wanzen entziffern können.“ Die Funde und das Schicksal der Bevölkerung erschüttern sie.

Im September 1992 präsentiert Jenny seine Studie. Er habe im Umfeld der Atomanlagen nicht mehr Missbildungen als in anderen Regionen gefunden. Fazit: „Der Einfluss der Radioaktivität – falls es ihn gibt – ist nicht grösser als die vielen anderen Einwirkungen“. Cornelia Hesse-Honegger kritisiert verfälschende Arbeits- und Darstellungsmethoden, findet aber kein Gehör. ETH-Präsident Jakob Nüesch fordert sie auf, ihre Niederlage anzuerkennen.

Sie beginnt von vorn. Beschliesst eine umfangreiche Studie an 40 Standorten im Aargau, wo vier Atomanlagen und das Paul Scherrer Institut in Betrieb sind. Sammelt zwischen 1993 und 1996 2'600 Wanzen, untersucht 65 Insekten pro Standort, lernt „die Sprache der Missbildungen zu entziffern und einzeln darzustellen“. Dazu gehören geografische Karten, Aquarelle der Blattwanzen, Fotos, Texte, Protokolle. Diese Art Feldforschung ist neu, sie kann sich auf nichts abstützen. Das gefällt ihr. Sie lacht viel. Galgenhumor. Sammelt alle Arten und Individuen, die ihr begegnen – eine Abmachung mit sich selber. Sie will eine „ehrliche Arbeit“ machen; bei einer Auswahl sind immer Voreingenommenheiten im Spiel. Sie nimmt, wenn möglich, nur erwachsene Tiere; sich paarende Wanzen lässt sie in Ruhe – und freut sich über jede Art, der sie zum ersten Mal begegnet.

Sie reist in die USA: nach Three Mile Island, ins Atomtestgebiet Nevada, nach Hanford, wo die alten Plutoniumfabriken stehen. Nach La Hague, wohin die Schweizer ihren Atommüll zur Aufbereitung schicken. Sie traut ihren Augen nicht; der hochradioaktive Abfall wird an der Endstation vom Zug auf Lastwagen gehievt und durch Dörfer und Städte zur Atomanlage gefahren.

Betroffene des Atomkraftwerkes Gundremmingen in Bayern bitten Cornelia Hesse-Honegger, mit ihnen eine Studie im Umfeld der riesigen Atomanlage zu machen. Sie fürchten das geplante, mangelhaft konstruierte Zwischenlager an einem Ort, den die Donau regelmässig überschwemmt. Die Opponenten fanden keinen Biologen für diese Arbeit, auch nicht gegen Bezahlung. Cornelia Hesse-Honegger macht die Arbeit, unentgeltlich, sammelt drei Sommer lang Wanzen. Trotz Protesten wird im August 2006 das Zwischenlager eröffnet, mit ein paar Verbesserungen, immerhin. Die „umfassende Pionierstudie“ ermutigt sie, wieder mehr vor der eigenen Haustür zu forschen, wie jetzt im Entlebuch, einem Tal, das genau südlich der AKWs Gösgen und Leibstadt liegt, und in dem konstant die Bise bläst.

Im Oktober 1990 stellt sie in der Grafik-Sammlung der ETH Zürich über 100 Tschernobyl-Bilder aus – das ganze Spektrum ihrer Arbeit. Sie wird zum ersten Mal ernst genommen. Der Verkauf zweier Aquarelle rettet sie vor dem Ruin, die Bilderrahmen auf Mass kosteten ein Vermögen. 1992 bestimmt das Bundesamt für Kultur Hesse-Honeggers Zyklus „Nach Tschernobyl“ zum Schweizer Beitrag für die Triennale XVIII “Design und Umwelt“ in Mailand. Die Mailänder Ausstellungskommission lehnt die 38 Aquarelle ab; die Schweiz droht mit Boykott; der Gastgeber gibt nach; die internationale Presse ist begeistert.  „Kein Wort in Schweizer Zeitungen, kein Schweizer Politiker an der Ausstellung“. Aber der österreichische Kulturminister Rudolf Scholten ist da und holt die Ausstellung der umstrittenen Künstlerin nach Wien. Bis 1999 waren die Bilder unterwegs, in Schweden, England, Kanada, auch in der Schweiz. Manchmal ist das Publikum verärgert, weil es pure Schönheit erwartet, doch die meisten erkennen das Bedrohliche instinktiv, das „visualisierte ungute Gefühl“.

Seit der Tschernobyl-Katastrophe wird geforscht, in Weissrussland, Russland, in der Ukraine, in Deutschland. Keine Langzeitstudie in der Schweiz, kein flächendeckendes Krebsregister. Einzig eine Studie eines Tessiner Arztes belegt, dass viele Frauen im Tessin im Juni 1986 abgetrieben haben aus Angst vor Missbildungen. Cornelia Hesse-Honegger echauffiert sich: über den verschleiernd harmlosen Dokumentarfilm am Schweizer Fernsehen zum 20. Jahrestags des Unfalls. Wie, fragt sich die Forscherin, ist eine Demokratie zu führen, wenn das Volk belogen wird? Sie entwickelt eine „Wahnsinnsstinkwut“, dass die Grünen und die Roten ihre Hausaufgaben nicht machen, dass die Schweiz keine unabhängige Universität hat, also brachliegt, was Angestellte der Universitäten sich nicht zu erforschen getrauen. Dass in Fernsehdiskussionen widerspruchslos angenommen wird, Atomenergie erzeugte keine CO2-Emissionen. „Es wird zu viel geschwatzt, zu wenig gehandelt.“ Das „Nationale Ärztekomitee für Atomausstieg“ leiste hervorragende Arbeit, und noch wirken ein paar dissidente Wissenschaftler in Deutschland, in der Schweiz, „alle uralt, Nachwuchs fehlt“. Die Leute haben gekämpft; viele sind resigniert. Die Arbeit der AKW-Gegner sei wichtig, aber das Grüne und Umweltfreundliche oft handgestrickt; so kann es nicht ernst genommen werden.“ Cornelia Hesse-Honegger ist müde. 

*Franziska Schläpfer ist Buchautorin und freie Kulturjournalistin. Obiger Text stammt aus ihrem Buch „Schön schräg – Schweizerinnen der besonderen Art“, Verlag Diederichs 2007, S. 73)

Zwei Zeichnungen von Cornelia Hesse-Honegger (www.wissenskunst.ch)


© Pro Litteris


© Pro Litteris

Glasflügelwanze (Corzius hyoscyami) aus Würenlingen, Kanton Aargau, gefunden gegenüber Paul Scherrer Institut (PSI). Der linke Flügel ist kurz und ballonförmig aufgeblasen, der sonst flach darunter liegende verkrumpelt und bräunlich. 1989.

Skorpionsfliege (Panorpidae) aus Reuenthal, in der Nähe des Atomkraftwerks Leibstadt. Beide Flügel auf der rechten Seite sind deformiert, das Abdomen aufgeblasen und mit verschobenen Segmenten. 1988.

Genetische Schäden als Folge von Tschernobyl

Von SUSAN BOOS*

Professor Michael Fernex hat Anfang 1998 in „Tschernobyl wütet im Erbgut“ neueste, erschreckende Daten zusammengetragen:

Schon Jahre vor der Reaktorkatastrophe begann man in Weissrussland, die Missbildungen bei Neugeborenen systematisch in einem Register zu erfassen. Vergleicht man heute die Missbildungszahlen mit Daten vor dem Super-GAU, zeigt sich, dass die Missbildungen bei Säuglingen proportional zur Kontamination steigen. In den hoch verseuchten Gebieten ist sie 79 Prozent angestiegen. Diese Missbildungen entstehen im Mutterleib durch die Strahlenbelastung und sind nicht vererbt. Genetische Mutationen brauchen mehrere Generationen, bis sie manifest werden.

Bei Kindern, die 280 Kilometer von Tschernobyl entfernt in kontaminierten Gebieten leben, hat man in einem bestimmten Bereich ihrer Erbsubstanz – den so genannten Minisatelliten – bereits doppelt so viele Mutationen festgestellt, wie bei Kindern aus nicht verseuchten Gebieten. Noch haben diese Mutationen keine erkennbaren Auswirkungen, aber sie werden vererbt. Irgendwann dürften schwere genetische Krankheiten entstehen.

Bei Tieren, die eine kürzere Generationenfolge aufweisen, treten diese mutagenen Schädigungen schon sichtbar auf. In einer Fischzucht 200 Kilometer von Tschernobyl entfernt entstehen nur noch aus 30 Prozent der befruchteten Karpfen-Eier lebensfähige Larven – der grosse Rest stirbt wegen der zahlreichen genetischen Defekte ab. Die Zucht liegt in mässig verseuchtem Gebiet, das Wasser ist weder mit Schwermetall noch mit Pestiziden verunreinigt. Von den überlebenden Larven weist ein Grossteil die unterschiedlichsten vererbten Missbildungen auf.

Bei Mäusen, die in der Nähe des geborstenen Reaktors leben, haben Wissenschaftler eine so hohe Mutationsrate entdeckt, wie man sie sonst höchstens bei gewissen Viren antrifft.

Der Bestand der Rauchschwalben in der Nähe des Reaktors ist massiv geschrumpft. Die Vögel entwickeln einen Teilalbinismus; aufgrund einer genetischen Anomalie wachsen ihnen auf der Brust, am Kopf oder am Schwanz weisse Federn. Die Halbalbinos sind nicht lange überlebensfähig, es gibt wenig Nachwuchs, die Population stirbt langsam aus. (Aus dem Buch „Strahlende Schweiz“ von Susan Boos, Rotpunktverlag Zürich 1999, S. 226)

*Susan Boos ist Redaktorin der Wochenzeitung WOZ und beschäftigt sich seit Jahren mit Atom- und Energiepolitik

Genetischen Schäden – wie WHO und IEAO damit umgehen

Von SUSAN BOOS*

In den Fünfzigerjahren setzte sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) kritisch mit dem Strahlenrisiko auseinander. Sie organisierte 1956 eine Konferenz, an der sich namhafte Genetiker beteiligten. Die anwesenden Wissenschaftler sind sich einig: Ionisierende Strahlen lösen bei Bakterien wie bei Menschen Mutationen aus, und kleine Strahlendosen sind überproportional gefährlich. In einer gemeinsamen Stellungnahme warnen die Genetiker: „Das Erbgut ist das wertvollste Eigentum der Menschen. Es bestimmt das Leben ihrer Nachkommenschaft, die gesunde und harmonische Entwicklung der künftigen Generationen. Wir als Gruppe behaupten, dass die Gesundheit der künftigen Generationen durch die zunehmende Entwicklung der Atomindustrie und Strahlungsquellen gefährdet ist.“

Der neu gegründeten International Atomic Energy Organisation (IAEO) passen diese deutlichen Worte nicht. Es kommt zu Verhandlungen und 1959 zu einem gemeinsamen Vertrag, der die WHO zum Schweigen verurteilt. „Das Abkommen verfügt implizit, dass Forschungsprojekte – deren Resultate potentiell die Förderung der Atomindustrie behindern könnten – entweder gar nicht oder nur noch von der IAEO gemeinsam mit der WHO durchgeführt werden“, schreibt der emeritierte Basler Medizin-Professor Michel Fernex. Die IAEO fürchte zu Recht, fährt Fernex fort, „dass sich ein aufgeklärtes Publikum der Atomenergie entgegenstellen könnte, und legt deshalb im erwähnten Abkommen fest: „Die IAEO und die WHO sind sich bewusst, dass es notwendig sein könnte, restriktive Massnahmen zu treffen, um den vertraulichen Charakter gewisser ausgetauschter Informationen zu wahren. Dabei geht es vor allem darum, dass als vertraulich deklarierte Daten, die zwischen den beiden Organisationen ausgetauscht werden, auch wirklich geheim bleiben“.

Dies erklärt, weshalb weder die IAEO noch die WHO betreffend Tschernobyl brauchbare Daten geliefert haben.

Die WHO veranstaltete zwar im November 1995 in Genf eine grosse Tschernobyl-Konferenz. Quintessenz der Grossveranstaltung: Die Schilddrüsenkrebsepidemie in Weissrussland und der Ukraine sei auf den GAU zurückzuführen, andere Folgeschäden liessen sich aber noch nicht belegen.

Das ukrainische Gesundheitsministerium sprach zum selben Zeitpunkt bereits von hundert- bis zweihunderttausend Todesopfern, die der GAU gefordert habe. Genau wird sich dies nie bestimmen lassen, weil man es versäumt hat, die Katastrophe seriös wissenschaftlich aufzuarbeiten. (Aus dem Buch „Strahlende Schweiz“ von Susan Boos, Rotpunktverlag Zürich 1999, S. 225)

*Susan Boos ist Redaktorin der Wochenzeitung WOZ und beschäftigt sich seit Jahren mit Atom- und Energiepolitik

Radioaktivität und Atomkraftwerke

Andreas Nidecker* wird von Renato Beck (Basler Zeitung BaZ) befragt.

BaZ:
Herr Nidecker, wie kommt ein Radiologe, der um die nützlichen Eigenschaften von Strahlung Bescheid weiss, dazu, die Atomenergie zu verteufeln?
Andreas Nidecker:
Es macht einen Unterschied, ob Röntgenstrahlen in der Medizin benutzt werden, wo das Risiko einer Erkrankung viel grösser ist als die minimale Bestrahlung, oder ob, wie bei einem AKW-Unfall, ganze Landstriche durch radioaktive Substanzen wie Caesium verstrahlt und eventuell unbewohnbar werden. Ich verteufle die Atomkraft keineswegs, ich stelle nur die hohen Kosten dem ebenfalls hohen Risiko gegenüber.

Die Atomindustrie spricht von mangelhaften Studien im Zusammenhang mit Krebserkrankungen.
Sie sprechen die Kinderkrebsstudie aus Norddeutschland an, wo vermehrt Blutkrebserkrankungen bei Kindern aus der Umgebung von Atomkraftwerken festgestellt wurden. Diese Arbeit ist international publiziert, „peer reviewed“ und anerkannt und ist epidemiologisch hieb- und stichfest. Wissenschaftlich anerkannte Studien haben mehr Gewicht als Statements von profitorientierten Unternehmen wie AKW. Natürlich müssen solche Studien sofort verunglimpft werden, könnten sie doch im Falle ihrer Verbreitung bei einer der Atomenergie latent kritisch eingestellten Bevölkerung Alarmstimmung auslösen.

Herr Nidecker, waren Sie schon mal in einem Atomkraftwerk?
Selbstverständlich. Der Besuch hat weder meine Gefühlslage noch meinen Puls verändert. Hab auch keine neuen Erkenntnisse gewonnen, ausser dass unsere Besuchergruppe von der tüchtigen Mitarbeiterin in Gösgen mit herzlicher und bewundernswerter Hartnäckigkeit vom Nutzen des Atomstroms hätte überzeugt werden sollen.

Spüren Sie um sich herum eine veränderte Wahrnehmung der Kerntechnik? Verschwindet das Unbehagen mit der Zeit?
Das Unbehagen mag verschwinden, jedoch finde ich es gravierender, dass das Wissen um ein Ereignis wie „Tschernobyl“ verschwindet. Junge Menschen unter 20 Jahren haben ja die Katastrophe von Tschernobyl gar nicht erlebt und darum haben sie wahrscheinlich eine andere, unbeschwerter Beziehung zur „sicheren“ Kerntechnologie. Das erschwert unsere Aufklärungsarbeit gelegentlich, weil Jugendliche in diesem Land stets nur die Story vom absoluten Bedarf für AKW hören zur Behebung der baldigen so genannten „Stromlücke“. Die kritischen Stimmen und Warner werden im lauten PR-Konzert für neue AKW nicht gehört.

Ist es nicht verantwortungsvoller, Atomstrom aus einem sicheren Schweizer Werk zu beziehen, statt womöglich dereinst importiert aus Tschernobyl, Reaktor B?
Atomstrom aus einem Reaktor in Tschernobyl oder aus Gösgen sind nun sicher nicht die Alternativen, die es zu diskutieren gilt. Die neuen und guten Möglichkeiten heute sind doch Strom vom Dach oder Bach – oder immer häufiger auch aus der Güllegrube. Oder die Alternative: Wärme aus dem Wald oder vom eigenen Körper bei Nullenergie-Häusern. Wer will denn noch bei einer Technologie verharren, die vorgestern modern war, sich aber heute schlicht aus dem Markt trippelt: weil sie risikobehaftet und anfällig auf Terrorismus ist, weil die Entsorgung der atomaren Abfälle nicht gelöst ist, weil es Probleme mit der Wasserkühlung in heissen Sommermonaten geben kann – und weil sie letztlich ausgesprochen teuer ist. Ausserdem vergessen viele, dass Uran genauso endlich verfügbar ist wie etwa Erdöl. (Basler Zeitung vom 19./20. Juli 2010)

*Andreas Nidecker ist Radiologe und Vorstandsmitglied der Schweizer Gruppe „Ärzte für die Verhütung eines Nuklearkrieges (IPPNW)“, derjenigen Weltorganisation, die 1985 den Friedensnobelpreis erhielt. Auszug aus einem Interview in der Basler Zeitung vom 19./20. Juli 2010.

Krebs bei Kindern - ein akzeptabler Kollateralschaden?

Von JEAN-JACQUES FASNACHT*

Im letzten Jahr publizierte das Mainzer Institut für Epidemiologie im Auftrag des deutschen Bundesamtes für Strahlenschutz eine Studie von hochexplosiver politischer Sprengkraft: Anhand der Daten des Kinderkrebsregisters wurde nämlich mit der nötigen wissenschaftlichen Evidenz nachgewiesen, dass im Umkreis von fünf Kilometern um ein Atomkraftwerk das Krebsrisiko bei Kindern um 66 Prozent und für Leukämie gar um 120 Prozent erhöht ist.

Und das ist noch nicht alles. Gemäss Professor Edmund Lengfelder, Strahlenbiologe am Strahlenbiologischen Institut der Ludwig-Maximilian-Universität in München, treten auch 30 bis 40 Kilometer von AKW entfernt gehäuft Leukämie- und Krebsfälle auf.

Keine brandneue Erkenntnis, denn schon vor Jahren gab es entsprechende Studien mit ähnlichen Aussagen. Aber diese besorgniserregenden Daten wurden entweder vertuscht oder geschönt. Eine fast schon institutionalisierte Strategie im Umgang mit atomaren Risiken, ganz nach dem Motto „Was nicht sein darf, kann nicht sein!“.

Ein weiteres Beispiel für diese Haltung: In einer Vereinbarung zwischen der Internationalen Atomenergieorganisation IEAO und der Weltgesundheitsorganisation WHO hat sie ihre Forschungsergebnisse zu atomaren Fragen primär der IAEO vorzulegen, welche diese dann zensurieren oder unterbinden kann.

Niedrigstrahlung ist schädlicher als angenommen

Die Krebshäufung, die im Normalbetrieb rund um Atomkraftwerke auftritt, wirft eine Problematik auf, die bis vor kurzem kontrovers beurteilt wurde: Jede noch so geringe Strahlendosis kann gesundheitlichen Schaden anrichten. Sehr niedrige ionisierende Strahlung ist also viel schädlicher als bis anhin angenommen. Damit werden die bisherigen Strahlenschutzwerte zur Makulatur, weil sie falsche Sicherheit vortäuschen. 

Letztlich geht es aber um fundamentale ethische Fragen: Wie hoch darf das radioaktive Restrisiko sein? Wie viele zusätzliche Krebstote sind für unsere Gesellschaft gerade noch akzeptabel? Öffentliche Diskussionen über atomare Risiken werden in der Regel durch die Atomlobby mit abstrusen statistischen Vergleichen zu den Gefahren des Privatverkehrs vernebelt. Deshalb ist es bitter nötig, dass nun auch in der Schweiz eine seriöse Studie zum Vorkommen von Kinderkrebsfällen in der Nähe von AKW initiiert wurde. Ein entsprechendes nationalrätliches Postulat wurde vom Bundesrat im März 2008 übernommen. Es steht unter dem Titel „Studie zu Kinderkrebs und AKWs für die Schweiz“. Um die Glaubwürdigkeit der Studie zu sichern, braucht es unter Federführung des Bundesamtes für Gesundheit aber ein unabhängiges Wissenschaftsgremium unter Einbezug von kritischen Fachleuten. 

*Jean Jacques Fasnacht ist Arzt und engagiert sich als Ko-Präsident des Vereins «Klar-Schweiz !» gegen ein Endlager im Zürcher Weinland

Leukämiestudie Krümmel

Seit 1989 häufen sich in der Umgebung des norddeutschen Atomkraftwerkes Krümmel Leukämiefälle unter Kindern. Mehrere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben in Studien belegt, dass nur das AKW für die Leukämiehäufung verantwortlich sein kann.

Von INGE SCHMITZ-FEUERHAKE*

Die ländliche Gemeinde Elbmarsch – die mehrere kleine Dörfer umfasst – liegt am südlichen Ufer der Elbe, 35 Kilometer südöstlich von Hamburg. Gegenüber am nördlichen Elbeufer steht das Kernkraftwerk Krümmel (KKK), das 1984 den Betrieb aufnahm und damals den grössten Siedewasserreaktor der Welt darstellte (1 300 Megawatt elektrisch). Zwischen Februar 1990 und Mai 1991 hat ein einheimischer Arzt in dieser Kommune fünf Leukämiefälle bei Kindern unter 15 Jahren diagnostiziert. Weitere Erkrankungen traten zwischen 1994 und 1996 – auch auf der anderen Elbeseite – auf, womit die Gesamtzahl der Leukämiefälle auf neun stieg (Tab. 1). Alle betroffenen Kinder leben in einem Radius von fünf Kilometern vom KKK entfernt, und die weitaus meisten Fälle konzentrierten sich am Südufer. Glücklicherweise tritt Leukämie bei Kindern wie bei Erwachsenen sehr selten auf, weshalb man eine Erhöhung der Erkrankungsrate relativ leicht bemerkt. Seit etwa achtzig Jahren ist Leukämie als typische Strahlenfolge bekannt und wurde in der Zwischenzeit in mannigfachen Niedrigdosiszusammenhängen – zum Beispiel nach diagnostischem Röntgen und Umweltradioaktivität – festgestellt. Es ist eine der wenigen Krebserkrankungen, die nach einer Bestrahlung relativ schnell erscheinen.

Tab. 1: Kindliche Leukämiefälle (<15 Jahre) im Fünf-Kilometer-Umkreis des Kernkraftwerks Krümmel (KKK) (zusätzlich traten eine Leukämie bei einem Jugendlichen 1991 und eine aplastische Anaemie bei einem Kind 1989 auf)

Nr.

Geburtsjahr

Geschlecht

Leukämietyp

Diagnosedatum

Alter bei Diagnose 

1

1986

w

ALL

2/90

3

2

1981

m

ALL

3/90

9

3

1981

m

AML

4/90

9

4

1989

w

ALL

1/91

1

5

1988

m

ALL

5/91

2

6

1993

m

AML

1994

1

7

1992

m

ALL

1995

3

8

1985

m

ALL

6/95

10

9

1993

m

ALL

6/96

2

 

m: männlich w: weiblich ALL: Akute lymphatische Leukaemie  AML: Akute myeloische Leukaemie

Leukämieanstieg um 700 Prozent

In den alten Bundesländer der BRD erkranken nach dem Mainzer Kinderkrebsregister im Mittel 4,3 auf 100 000 Kinder (unter 15 J.) pro Jahr an Leukämie. In der Gemeinde Elbmarsch – die grösser ist als der erfasste Fünf- Kilometer-Radius – leben zirka 1 350 Kinder; danach wäre statistisch etwa alle 17 Jahre ein kindlicher Leukämiefall zu erwarten. Die beobachtete Erhöhung beträgt demnach über 700 Prozent. Das ist der weitaus höchste jemals bekannt gewordene Leukämieanstieg in einer angeblich unbestrahlten Bevölkerung. Das sehr junge Erkrankungsalter der Kinder bei Krümmel deckt sich mit der Erfahrung, dass die Strahlenempfindlichkeit umso grösser ist, je geringer das Alter bei Exposition war. Wie aus Tab. 1 hervorgeht, waren fünf der Fälle bei Diagnose unter 5 Jahre alt, das höchste Alter beträgt 10 Jahre. Sehr auffällig ist bei Krümmel ausserdem die geschlechtsspezifische Zuordnung. Während das Mainzer Kinderkrebsregister ein Verhältnis Jungen zu Mädchen von 1,3:1 für die Häufigkeit der akuten lymphatischen Leukämie angibt, ist dieses nach Tab. 1 in der KKK-Umgebung mit 7:2 = 3,5:1 deutlich zum männlichen Geschlecht hin verschoben. Dies ist ebenfalls typisch: Bei den japanischen Atombombenopfern trat strahleninduzierte Leukämie ebenfalls im Verhältnis Männer zu Frauen von 2 : 1 auf.

Andere Ursachen?

Medizinische, berufliche oder andere Strahlenbelastungen, die nicht mit dem KKK zusammenhängen und die den Effekt erklären könnten, wurden nicht gefunden. Eine höhere Empfindlichkeit bei Kindern würde man auch für andere Umweltnoxen voraussetzen. Von den chemischen Giften, die nachweislich Leukämie verursachen, ist Benzol das potenteste. Es müsste aber für einen so hohen Effekt in Arbeitsplatzkonzentration vorliegen. In der Elbmarsch ergab sich jedoch kein auffälliger Befund. Pestizide waren in der Elbmarsch genauso wenig auffällig wie andere toxische Stoffe mit möglichem Einfluss. Auch die Messung elektromagnetischer Feldstärken ergab keinen auffälligen Befund. Andere Hypothesen verbinden Leukämie mit Viren als Auslösern und extern bedingten Beeinflussungen des Immunsystems. Derartige Mechanismen können – solange letztlich unbekannt – natürlich nicht vollständig ausgeschlossen werden, erscheinen aber wegen der im Üübrigen vom Mainzer Kinderkrebsregister im grossen und ganzen beobachteten Stabilität der kindlichen Leukämierate in der BRD im Zusammenhang mit einem so hohen Effekt nicht plausibel. Sie könnten allenfalls die Wirkung des naheliegenden Verursachers (ionisierende Strahlung infolge Betrieb des KKK) verstärken. In der Nähe vom KKK befindet sich die Kernforschungsanlage der «Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schifffahrt und Schiffbau», die seit den sechziger Jahren zwei Forschungsreaktoren betrieben hat. Als potentielle Strahlenquelle für die Leukämieinduktion scheidet sie unseres Erachtens aus, weil die Inventare der Reaktoren (mit 5 und 15 Megawatt Leistung) wesentlich kleiner sind.

Erhöhte Strahlenwerte

  • Seit Betriebsbeginn 1984 zeigt sich in der Umgebung des KKK:
  • erhöhte Konzentration der Spaltprodukte Cäsium-137 und Strontium-90 im Regenwasser und bodennaher Luft
  • erhöhte Konzentration der Spaltprodukte Cäsium-137 und Strontium-90 in Boden und Bewuchs (Gras)
  • erhöhte Tritiumwerte in verschiedenen Medien
  • radioaktive Korrosionsprodukte in verschiedenen Medien
  • Plutoniumeinträge, die nicht aus den Atomwaffentests stammen können

Die meisten dieser erhöhten Werte können auch nicht auf Tschernobyl zurückgeführt werden. Aber es gibt zahlreiche Hinweise, dass das KKK technische Probleme hatte, die zu überhöhten Radioaktivitätsabgaben führten. Doch der zuständige Energieminister des Landes Schleswig-Holstein, Claus Möller, behauptet, es gäbe keine Handhabe für die Stilllegung des AKW, da es an justiziablen Fakten fehle und daher ein Kausalitätsnachweis gegenwärtig nicht zu erbringen sei. Demgegenüber haben wir seit Jahren geltend gemacht, dass das KKK aufgrund der Indizienlage der einzig infrage kommende Verursacher ist.

*Prof. Dr. Inge Schmitz-Feuerhake hat zusammen mit Hayo Dieckmann, Bettina Dannheim, Anna Heimers und Heike Schröder die Studie «Leukämie und Radioaktivitätsleckagen beim Kernkraftwerk Krümmel» verfasst; die Studie enthält ausführliche Quellenangaben und kann bezogen werden bei: Universitäts-Buchhandlung Bremen, Bibliothekstrasse 3, D-28359 Bremen.

Totgeborene Kinder in Westcumbrien (England)

Spitze eines Eisberges strahlenbedingter Erbschäden?
Frauen, die nahe der Wiederaufbereitungsanlage Sellafield wohnen, erleiden überdurchschnittlich häufig Totgeburten. Mit grösster Wahrscheinlichkeit liegt dies an den Kindsvätern, die in der Anlage arbeiten und am Arbeitsplatz Strahlung ausgesetzt sind.

Von MARTIN WALTER*

Die Studien, die nachweisen, wie sehr die Wiederaufbereitungsanlagen von Sellafield und La Hague die Gesundheit der AnwohnerInnen schädigen, häufen sich. Schon 1983 wies die Yorkshire Television Company in einem Film nach, dass in der Gegend von Sellafield zu viele kindliche Leukämien auftreten.1 Ein Jahr später hat eine Gruppe britischer Wissenschaftler – unter der Leitung von Sir Douglas Black, eben noch Praesident des “Royal College of Physicians” – die Fernsehsendung insofern bestätigt, als sie in einer breit angelegten epidemiologischen Studie feststellte, es gebe in West-Cumbrien bei Kindern tatsächlich zu viele Leukämien und Lymphome.2 Die British Nuclear Fuel Ltd. (BNFL), die Betreiberin von Sellafield, hatte Sir Douglas Black die entsprechenden Emissionsdaten zur Verfügung gestellt. Aufgrund dieser Daten konnten die Wissenschaftler jedoch keine Kausalität zwischen den Emissionen der Wiederaufbereitungsanlage und den kindlichen Leukämien respektive den lymphatischen Tumoren herstellen – weil sie nicht belegen konnten, dass die «geringe» Strahlendosis zu einer so starken Erhöhung von kindlichen Leukämien hätte führen können.

Gardners Studie

Später publizierte Martin Gardner eine aufsehenerregende epidemiologische Studie, in welcher er aufzeigen konnte, dass Väter, die berufsbedingt vermehrter Strahlung ausgesetzt sind, ein erhöhtes Risiko aufweisen, Kinder zu zeugen, die an einer Leukämie oder an einem Lymphom erkranken werden.3,4 Vor allem aber beschrieb er im Dorf Seascale, dem Dorf neben der Anlage, eine  über Jahre anhaltende, erhöhte kindliche Leukämieinzidenz.
Martin Gardner war Mitglied in der Wissenschaftergruppe von Sir Douglas Black gewesen und nahm die Empfehlungen des Black Report als Aufgabe wieder auf. Dort war eine Fallkontrollstudie gefordert worden, die mehr Licht in die epidemiologischen Zusammenhänge bringen sollte, welche zur erhöhten Tumorinzidenz der Kinder um Sellafield führten. Gardner hatte die epidemiologischen Daten von Kindern und Jugendlichen (bis 25-jährig) ausgewertet, bei denen zwischen 1950 und 1985 eine Leukämie oder ein Non-Hodgkin-Lymphom festgestellt worden war.
Seine Ergebnisse bestätigten erneut den Black-Report: Wurde das relative Risiko in Funktion von der Distanz des Wohnortes von der Sellafieldanlage beschrieben, nahm dieses Risiko, an einer der beiden Krankheitsgruppen (Leukämie oder Non-Hodgkin-Lymphom) zu erkranken, etwa um den Faktor 6 ab, was die Leukämie betrifft, und etwa um den Faktor 10, was beide Krankheitsgruppen zusammen betrifft.

Distanz von der Anlage

Relatives Risiko Leukämie

Relatives Risiko Leukämie und Non-Hodgkin-Lymphom

<=4 km

1

1

5-9 km

0.35

0.21

10-14 km

0.21

0.17

15-19 km

0.22

0.16

20-24 km

0.22

0.07

25-29 km

0.14

0.06

=>30 km

0.17

0.11

Durch die Fallkontrollstudie von Gardner wurde eine weitere sehr wichtige Tatsache festgestellt: Er konnte aufzeigen, dass die Distanz des Wohnortes zur Anlage nicht der einzige Einflussfaktor war, weswegen die Kinder häufiger an Leukämie oder Non-Hodgkin-Lymphom erkrankten. So untersuchte er auch andere Kriterien wie die Strahlung, welcher der Kindsvater vor der Zeugung ausgesetzt war. Die Strahlendaten (Dosimetrien) bekam Gardner von der BNFL. Daraus liess sich ablesen: Das Risiko an Leukämie zu erkranken nahm zu, je näher ein Kind bei der Anlage lebte, aber ebenso, je höher die Dosis war, die sein Vater vor der Zeugung abbekommen hatte.

Risikogruppe | Relatives Risiko Leukämie und Non-Hodgkin-Lymphom

Geboren ausserhalb des 5-km-Umkreises um die
Anlage | 0.17
Vater arbeitet in der Anlage | 2.44
Vater arbeitet in der Anlage und hat eine Strahlendosis von =>100 mSv vor der Zeugung seines Kindes erhalten | 6.42

Erhöhte Inzidenzraten von Leukämie und Non-Hodgkin-Lymphom fand man auch um die Anlage der Atomic Energy Authority in Dounreay5,6 wie auch in der Umgebung der Atomwaffenfabriken von Aldermaston und Burghfield.
Gardners These, dass die Ursache für kindliche Leukämie bei den strahlenbelasteten Vätern zu suchen ist, war jedoch umstritten. Deshalb führte Eve Roman 1999 eine sogenannte «family study» durch, worin sie alle kindlichen Krebsfälle von Angestellten der britischen Atomindustrie untersuchte. 39'557 Kinder von männlichen und 8'883 von weiblichen Angestellten wurden untersucht. 111 Krebsfälle liessen sich bei den Nachkommen dieser ArbeiterInnen eruieren, von denen wiederum 28 Leukämien waren.8 Die Autoren beobachteten dabei eine 5.8-fach erhöhte Leukämierate bei Kindern, deren Väter vor der Zeugung 100 mSv oder mehr erhalten hatten. Sie vertreten – im Gegensatz zu andern Autoren – die Überzeugung, dass epidemiologisch eine erhöhte Leukämieinzidenz bei Kindern, deren Väter vor der Zeugung bestrahlt worden waren, nicht ausgeschlossen werden könne und bestätigten Martin Gardners Keimbahnhypothese.
Die Studien aus Britannien zu Leukämien sind nicht die einzigen geblieben. Jean-François Viel hat in Frankreich über Leukämien um die Anlage von La Hague berichtet, Hofmann aus Deutschland über kindliche Leukämien um das Atomkraftwerk Krümmel.9,10

Häufige Totgeburten

Eine neuere Arbeit von Louise Parker und Mitarbeitern liefert weitere Hinweise, dass die Atomindustrie tatsächlich transgenerationelle Schäden verursacht. Die Bestrahlung der Keimzellen des Vaters vor der Zeugung birgt für das Kind nicht nur das Risiko der erhöhten Leukämie- und Lymphominzidenz, sondern auch dasjenige, nach der 28. Schwangerschaftswoche abzusterben und tot geboren zu werden.11 Parker hat zwischen 1950 und 1989 die Totgeburten in Cumbrien untersucht, da in der Umgebung von Sellafield unerklärlich viele Kinder tot zur Welt kamen.
Louise Parker machte einerseits eine Kohortenstudie, in der sie eine Kohorte von «radiation worker» (Strahlenarbeiter) untersuchte, bei der 9'208 Geburten registriert wurden, darunter waren 130 Totgeburten. Von allen Vätern dieser Kohorte lagen dosimetrische Daten vor; die Dosis war individuell ermittelt. Die rohen Inzidenzzahlen hatte man korrigiert und zwar nach den Kriterien «väterliches Alter» und «soziale Klasse», beides Faktoren, die einen Einfluss auf das Risiko Totgeburt haben. Mit demselben epidemiologischen Datenmaterial wurde zudem eine Fallkontrollstudie erstellt. Den «Fällen» aus den 130 Totgeburten – wurden bis zu vier Lebendgeborene als «Kontrollen» zugeordnet, die gleich alt waren und das gleiche Geschlecht hatten. Ausgeschlossen wurden solche Fälle und Kontrollen, deren Väter zwar «radiation worker» waren, aber keine Strahlung auf den Dosimetern registriert hatten.
So konnte in der Kohortenstudie eine adjustierte odds ratio von 1,24 pro 100 mSv (um den Faktor «odds ratio» höhere Wahrscheinlichkeit als erwartet von der Beobachtung einer normalen Vergleichsgruppe) gefunden werden. Das heisst, dass bei einer vorkonzeptionellen Bestrahlung von 100 mSv 1,24 odds ratio resultierte – also 24 Prozent mehr Totgeburten auftraten als bei nicht bestrahlten Erzeugern.
Ganz ähnlich waren die Resultate der zweiten Studie, der Fallkontrollstudie. Auch hier wurde eine signifikante Erhöhung der Totgeburtenrate nach Einwirkung von Strahlung auf die Väter gefunden, die konsistent ist mit den Ergebnissen der Kohortenstudie. Die odds ratio war 1.23 pro 100 mSv, wich also praktisch nicht ab von der odds ratio, die mittels der Kohortenstudie gefunden wurde.

Schädigung der Keimbahn

Totgeburten haben generell ein weites Spektrum von Ursachen, eingeschlossen mechanisches Trauma während der Geburt. Das Absterben der Föten kann aber auch von offensichtlichen kongenitalen Anomalien, von Missbildungen herrühren. In der Studie von Parker war das Risiko hoch für solche Totgeburten mit kongenitalen Anomalien und am höchsten für solche mit Neuralrohrdefekten. 8 von 9 solcher Neuralrohrdefekte führten zur Anenzephalie, also totgeborenen Kindern ohne Gehirn. Anenzephalie wird auch beobachtet bei Nachkommen von männlichen bestrahlten Mäusen und Männern, die Lösungsmitteln ausgesetzt sind. Beide Tatsachen deuten darauf hin, dass die Missbildung durch einen genetischen Schaden an der Keimbahn verursacht wird. In Tiermodellen hatte man qualitativ ein gleiches Spektrum von Schäden durch Bestrahlung von männlichen Tieren erreicht, wie dies bei den Totgeburten in der Studie von Parker gefunden worden ist. Das Risiko, aufgrund einer Bestrahlung der Keimbahn der Väter, totgeboren zu werden, ist jedoch beim Menschen höher als das Risiko für Kinder von bestrahlten Mäusevätern. Das Tiermodell, mit welchem in der Strahlenbiologie immer wieder argumentiert wird, unterschätzt offensichtlich das Risiko der Verursachung von Totgeburten durch bestrahlte männliche Zeuger bezogen auf den Menschen und somit wohl auch das Risiko transgenerationeller Effekte generell. Die Autoren tendieren denn in ihrer Arbeit darauf, dass ihre untersuchte Kohorte und die Fallkontrollstudie an Kindern von Atomkraftwerkarbeitern tatsächlich eine Keimbahnschädigung aufzeigt. Sie neigen auch zur Schlussfolgerung, dass der kausale Faktor für die Keimbahnstörung die radioaktive Strahlung ist, die auf die Väter eingewirkt hatte.
Was aufgrund ihrer Befunde nicht erhoben werden konnte, war ein Zusammenhang mit der internen Strahlung – also mit nachweislich inkorporierten (in Stuhl und Urin ausgeschiedenen) Isotopen, die allenfalls zu den Schäden geführt haben. Eine Dosisabhängigkeit für verschiedene inhalierte oder eingenommene radioaktive Isotope liess sich nämlich nicht feststellen, man konnte die Schäden nur mit der externen Strahlung (gemessen mittels Filmdosimetern) korrelieren. Die nicht Korrelierbarkeit mit der internen Strahlung mag daran liegen, dass sich deren wirkliche Dosis nur abschätzen lässt, was die Datenlage unexakt macht.

Vererbte Genschäden

Die Studie über die Totgeburten in Cumbrien ist ein weiteres Indiz dafür, dass insbesondere Wiederaufbereitung, aber auch ganz generell ionisierende Strahlung ein Risiko bedeutet für die Keimbahn. Dass schon in der ersten Generation messbare und statistisch signifikante Probleme auftauchen, lässt erahnen, welche genetischen Folgen die Atomtechnologie für die kommenden Generationen noch zeitigen wird.12
In zwei Arbeiten, die «Nature» publiziert hat, fanden WissenschaftlerInnen Indizien, die in die gleiche Richtung weisen. Die weissrussische Wissenschaftlerin Y. E. Dubrova konnte nachweisen, dass bereits Kinder von Eltern – die durch den GAU von Tschernobyl Strahlung ausgesetzt waren – signifikant mehr Mutationen im humanen Minisatelliten-Genom als zu erwarten gewesen wären, aufweisen. Und zwar hingen die Mutationen von der Belastung der Böden ab, auf denen die Eltern gelebt hatten. Mit gentechnologischen Methoden (Fingerprints) dokumentierte Dubrova die Schäden am Minisatelliten-Genom eindeutig. Die Mutationsrate bei den Kindern strahlenbelasteter Eltern war dosisabhängig erhöht.13,14,15
Offenbar ist die Wissenschaftswelt daran, ein Puzzle zusammenzustellen, das immer deutlicher zeigt:
Die Atomtechnologie produziert nicht nur Krankheiten wie Krebs und teratogene Schädigungen, sie verändert nachweislich das Erbgut – mit unvorhersehbaren Folgen. Und das ist viel bedrohlicher als die Onkogenese und die Mutagenese.


1 «Windscale – the Nuclear Laundry», shown on ITV on 1st November 1983
2 Black D.: Investigation of the possible increased risk of cancer in West Cumbria. London HMSO, 1984
3 Gardner Martin J. et al: Results of case-control study of leukaemia and lymphoma among young people near Sellafield nuclear plant in West Cumbria. British Medical Journal, Vol 300, 17th February 1990, pp 423-429
4 Gardner Martin J. et al : Methods and basic data of case-control study of leukaemia and lymphoma among young people near Sellafield nuclear plant in West Cumbria. British Medical Journal, Vol 300, 17th February 1990, pp 429-434
5 Heasman M.A., Kemp I.W., Urquhart J.D., Black R.: Childhood leukaemia in northern Scotland. Lancet 1986;i:266
6 Committee on Medical Aspects of Radiation in the Environnement. Second report. Investigation of the possible increasedincidence of leukaemia in young people near the Dounreay nuclear establishment, Caithness, Scotland. London: HMSO, 1988
7 Roman Eve et al: Childhood leukaemia in the West Bershire and Basingstoke and North Hampshire District Health Authorities in relation to nuclear establishements in the vicinity. British Medical Journal, Vol 294, 7th March 1987 pp 597-602
8 Roman Eve et al: Cancer in children of nuclear industry employees: report on children aged under 25 years from nuclear industry family study. British Medical Journal, Vol 318, 29th May 1999, pp 1443-1450
9 Hoffmann Wolfgang et al: A cluster of childhood leukaemia near a nuclear reactor in Northern Germany. Archives of Environmental Health, Vol 52 (No 4) July/August 1997
10 Viel J.F., Pobel D.: Case control study of leukaemia among young people near La Hague nuclear reprocessing plant: the environmental hypothesis revisited. British Medical Journal, 1997, Vol 314, pp 101-106
11 Parker Louise, Pearce Mark S., Dickinson Heather O., Aitkin Murray, Craft Alan W.: Stillbirths among offspring of male radiation workers at Sellafield nuclear reprocessing plant. The Lancet: Vol 354, 23th Oct. 1999, pp 1407-1414
12 Effets génétiques des radiations chez l'homme. pp. 184, OMS Palais des Nations Genève, 1957
13 Dubrova Y.E., Nesterov V.N., Krouchinsky N.G., Ostapenko V.A., Neumann R., Neil D.L. & Jeffreys A.J.: Human minisatellite mutation rate after the Chernobyl accident, Nature : Vol 380, p. 683-686, 25th April 1996
14 Baker R.J., Van den Bussche R.A., Wright A.J., Wiggins L.E., Hamilton M.J., Reat E.P., Smith M.H., Lomakin M.D. & Chesser R.K.: High levels of genetic change in Rodents of Chernobyl. Nature, Vol 380, p. 707-708, 25th April 1996
15 Hillis D.M.: Life in the hot zone around Chernobyl. Nature Vol. 380 , p. 665-666, 25th April 1996v

*Dr.med. Martin Walter, Arzt für innere Medizin, www.walter-m.ch

Tschernobyl, Bericht einer Elfjährigen

26. April 1986

Von Anastasija Mischina, 11 Jahre alt, aus der verstrahlten Zone im Gomel-Gebiet (Republik Belarus / Weissrussland)

26. April 1986. Dieser Tag brachte der belarussischen Erde Tränen, Unglück, Qual und Schmerz. Die Menschen erfuhren schreckliche Wörter – Tschernobyl und Radioaktivität. Ich bin am 10. August 1986 geboren. Ich verstehe nicht ganz, was damals geschehen ist und was jetzt geschieht, aber ich sehe, dass meine Mutter weint, wenn man im Fernsehen Tschernobyl zeigt und von den Menschen erzählt, die ihre Häuser, Wohnungen Schulen und Kindergärten verlassen mussten. Mutter sagt, dass das Unglück auch an uns nicht vorbeigegangen und daran die Radioaktivität schuld sei. Vor einigen Jahren wurde ich krank, mein Körper wurde von grossen, blauen Flecken bedeckt. Man untersuchte mich im belarussisch-holländischen Zentrum, danach in Minsk. Dann war ich lange im Krankenhaus in Gomel, ich sah viele kranke Kinder. Sie hatten irgendeine schreckliche Krankheit. Ich war mit ihnen befreundet, wir spielten zusammen, und ich hatte eine Freundin aus Komarin. Eines Morgens sah ich, wie ihr Vater sie in eine Decke wickelte, weinte und sie nach Hause trug. Man sagte mir, dass sie gestorben sei. In diesem Krankenhaus war es immer still und langweilig. Jetzt fahre ich zweimal pro Jahr nach Gomel, man untersucht mein Blut mit einem Computer, ich bekomme Arzneimittel, meine Mutter kauft teure Vitamine. Alle sagen, dass daran die Radioaktivität schuld sei. Wenn wir im Sommer im Wald sind, verbieten mir die Eltern, Beeren zu sammeln, aber ich möchte so sehr. Warum ist das passiert? Wer ist daran schuld? Ich weiss es nicht. Aber ich möchte keine Angst haben, wenn ich im Sandkasten spiele, in den Wald gehe, Beeren esse, Blumen sammle. Ich will keine Tränen der Erwachsenen sehen, in keinem Krankenhaus sein. Ich möchte, dass alle Kinder in Gärten und Parks spielen, lachen und sich über die Sonne freuen, in die Schule gehen, dass ihre Eltern nicht weinen und für immer die grausamen Wörter Tschernobyl und Radioaktivität vergessen.

Geschrieben 1997, elf Jahre nach der Katastrophe.

(Aus dem Buch „Tschernobyl für immer“ von Peter Jaeggi, Lenos Verlag 2011. Mehr Informationen unter www.peterjaeggi.ch)

Verkrüppelte Flügel, fehlende Fühler

Nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 fand sie ihre wahre Bestimmung: Seitdem studiert und malt Cornelia Hesse-Honegger missgebildete Insekten, vor allem Wanzen, die sie in den Fallout-Gebieten und im Umfeld von Atomanlagen sammelt. Aufbauend auf ihren 25 Jahren Erfahrung als wissenschaftliche Zeichnerin beim Naturhistorischen Museum der Universität Zürich (Schweiz) schuf sie ästhetische Zeugnisse einer bedrohten Tierwelt, die in internationalen Kunstgalerien aus gestellt wurden. Zusammen mit dem ehemaligen Wissenschaftsredakteur Peter Wallimann hat Hesse-Honegger ihre umfangreichen Studien nun in der Zeitschrift Chemistry & Biodiversity (www.vhca.ch)  zusammengefasst. 

Viele Experten waren damals überzeugt, dass die radioaktive Strahlung nach dem Unfall von Tschernobyl in Europa viel zu gering sei, um Wanzen oder andere Lebewesen zu beeinträchtigen. Hesse-Honegger entdeckte dagegen ein schockierendes Ausmaß an Deformationen bei Wanzen aus Schwedens Fallout-Gebieten. Von 1986 bis 2007 nahm sie daraufhin die morphologische Erscheinung verschiedener Wanzenarten weltweit ganz systematisch unter die Lupe. So sammelte sie mehr als 16.000 Wanzen, untersuchte sie genauestens, identifizierte verschiedene Arten von Fehlbildungen und fertigte mehr als 300 detaillierte Zeichnungen an. In der Gegend von Kernkraftwerken und Atomaufbereitungsanlagen, beispielsweise in der Schweiz (Aargau), Frankreich (La Hague) und Deutschland (Gundremmingen), fanden sich schwere Störungen und Missbildungen bei Wanzen und anderen Insekten. Gebietsweise wiesen über 30% der untersuchten Wanzen Störungen auf, wie fehlende Fühlersegmente, verformte Flügel, asymmetrische Leibsegmente, Geschwüre, schwarze Flecken oder eine veränderte Pigmentierung. Dieser Anteil liegt wesentlich höher als bei Populationen in weitgehend unberührten Lebensräumen (maximal 1 bis 3%).

Dabei zeigte sich, dass nicht die Entfernung von einer Atomanlage entscheidend ist, sondern Windrichtung und lokale Topologie: Populationen im „Windkanal“ einer Atomanlage sind wesentlich stärker von Missbildungen betroffen. Radionuklide, wie Tritium, Kohlenstoff-14 oder Iod-131, werden konstant von Kernkraftwerken emittiert, offenbar als Aerosole mit dem Wind transportiert und in den Wirtspflanzen der Wanzen akkumuliert. Eine solche niedrige, aber lang andauernde Strahlendosis kann weit schädlicher sein als eine kurzzeitige hohe Dosis (Petkau-Effekt). Zudem sind „heiße“ alpha- und beta-Teilchen wesentlich gefährlicher als gamma-Strahlen, da sie vom Organismus aufgenommen werden und ihn quasi von innen bestrahlen. Wanzen scheinen darauf besonders empfindlich zu reagieren.

Hesse-Honegger zitiert aus einer im Dezember 2007 durch das deutsche Bundesamt für Strahlenschutz veröffentlichten Pressemeldung (http://www.BfS.de): „Das Risiko für Kinder unter 5 Jahren, an Leukämie zu erkranken, nimmt zu, je näher ihr Wohnort an einem Kernkraftwerk liegt.“ Hesse-Honegger empfiehlt, die gegenwärtigen Schwellenwerte für radioaktive Immissionen neu zu überdenken. Allerdings sei die biologische Wirkung einer Strahlung sehr schwer zu beziffern. Wanzen könnten als sensitive „Bioindikatoren“ für zukünftige Studien dienen.


© Pro Litteris


© Pro Litteris

Glasflügelwanze (Corzius hyoscyami) aus Würenlingen, Kanton Aargau, gefunden gegenüber Paul Scherrer Institut (PSI). Der linke Flügel ist kurz und ballonförmig aufgeblasen, der sonst flach darunter liegende verkrumpelt und bräunlich. 1989.

Skorpionsfliege (Panorpidae) aus Reuenthal, in der Nähe des Atomkraftwerks Leibstadt. Beide Flügel auf der rechten Seite sind deformiert, das Abdomen aufgeblasen und mit verschobenen Segmenten. 1988.

Mehr:
www.wissenskunst.ch

Wirkung ionisierender Strahlen

Die Wirkung ionisierender Strahlen hängt weitgehend von der Dosis ab. Unter "Dosis" versteht man im umgangssprachlichen Sinn „eine bestimmte Menge einer Substanz, eingenommen über eine bestimmte Zeit“. Schon Paracelsus wies darauf hin, dass der Unterschied zwischen Heilmittel und Gift eine Frage der Dosierung sei. In Bezug auf die radioaktiven Dosen wurde und wird diskutiert, ob eine geringe Dosis überhaupt schädlich sei? Oder gar heilsam, wie bei der so genannten „Radon-Therapie“ vorausgesetzt wird. Unter Strahlenbiologen und Onkologen (Krebsspezialisten) ist auch strittig, ob es nur auf die Dosis ankomme oder ob die konkrete Dosisleistung eine Rolle spiele. Also: Ist „kurz und heftig“ gleich schädlich wie „während langer Zeit ein bisschen“? Bei den Diskussionen über den so genannten Petkau-Effekt geht es genau um diese Frage.

Strahlenbelastung

Menschen sind permanent einer gewissen Strahlenbelastung ausgesetzt. Die Gesamtbelastung setzt sich aus den folgenden vier Quellen zusammen (die Werte stammen aus dem dtv-Taschenbuch "Strahlen, Wellen, Felder"):

Kosmische Strahlung 1)

0.32 bis 0.68 Millisievert/Jahr

Terrestrische Umgebungsstrahlung 2)

0.2 bis 3.0 mSv/a

Innere Strahlenbelastung 3)

0.3 bis 3.0 mSv/a

Verhaltensbedingte Strahlenbelastung 4)

0.002 is 0.2 mSv/a

Total

0.84 bis 4.18 mSv/a

1)Dies ist der Rest des Sonnenwindes, der bis auf die Biosphäre durchschlägt. Der Wert ist abhängig von der Höhe über Meer. 2) Hier geht es um die Beschaffenheit des Untergrunds: Sedimente des Jura (junge Gesteine) oder Granit und Gneis im Alpenraum (Urgesteine)?3) Das ist die Strahlung von zerfallsfähigen Kernen, die bereits im Körper eingebaut sind (z.B. Kalium)4)Hier hat der betreffende Mensch selber Einfluss: TV-Konsum, PC-Monitor, Rauchen, Interkontinentalflüge, Röntgenbilder bei Arzt und Zahnarzt usw.

Belastung durch Röntgenaufnahmen

Mit welchen Dosen/Dosisleistungen muss man bei Röntgenaufnahmen rechnen?

  • Durchleuchtung der Lungen (Tuberkulose-Vorsorge):  35 mSv/min (alte Geräte) bis 1 mSv/min (moderne Geräte mit Bildverstärker
  • Schädelaufnahme beim Zahnarzt: etwa 1 mSv. 

Seit Jahren fordern Patientenorganisationen einen Röntgenpass. Dieser gilt aber aus Sicht der Ärzte als "nicht praktikabel".

Biologische Wirkung ionisierender Strahlung:

Niedrige Dosen können zu genetischen Schäden und zur Krebsbildung führen, hohe Dosen auch zur so genannten Strahlenkrankheit, bei der gilt:

0 bis 0.25 Sv

keine klinisch erkennbare Wirkung

0.25 bis 1 Sv

verändertes Blutbild, Haarausfall

1 bis 2 Sv

Durchfall, Erbrechen (verkürzte Lebensdauer)

2 bis 3 Sv

Abmagerung, Infekte (20% Todesrate bei Erwachsenen)

4.5 Sv

nach einem Monat sind 50% der Erwachsenen tot [LD 50 (30 d)]

7.5 bis 10 Sv

100% Todesrate im Verlauf der Zeit

50 Sv

innert 1 Woche 100% der Erwachsenen tot

100 Sv

Lähmung und schneller Tod

Vergleichswerte LD 50/30 d (50% Tote innert 30 Tagen) für andere Lebewesen

Ziege

3.5 Sv

Ratte

6 Sv

Hamster

10 Sv

Schnecke

200 Sv

Wespe

1000 Sv

Tabakmosaik Virus

2000 Sv

Protozoen

3300 Sv

Empfindlichkeit verschiedener Körperzellen (nach abnehmender Empfindlichkeit bzw. nach abnehmender Zellteilungsrate:

  • Blutkörperchen 
  • Spermien und Eizellen 
  • Haarfollikel 
  • Speicheldrüsen 
  • Talg- und Schweissdrüsen 
  • Magen- und Knorpelzellen 
  • Nebenniere 
  • Schilddrüse 
  • Leber 
  • Niere 
  • Bindegewebe 
  • Muskelgewebe 
  • Nervenzellen. 

Grenzwerte 

Äquivalent-Dosisleistung für Ganzkörperbestrahlung):

  • Allgemeinbevölkerung 1,67 mSv/Jahr
  • beruflich Strahlenexponierte 50 mSv/Jahr

Besonders gefährdete Gruppen sind:

  • Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren (Wachstum!)
  • werdende und stillende Mütter

Diese beiden Gruppen machen nur einen geringen Prozentsatz der Gesamtbevölkerung aus, sodass eine Höherbelastung von gewissen Kreisen als „gerechtfertigt" betrachtet wird.